Varanasi 1.10.2013 – 6.10.2013

Bei meiner Ankunft in Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges mit den vielen Ghats, unzähligen Tempeln und engen Gassen, muss ich erst einmal einige Schlepper abwimmeln, die mir ‚verrry cheap‘ eine Rickshaw besorgen können. Bei dem Preis von 400 INR entkommt mir ein lautes Lachen. Ich habe keine Ahnung, wie weit es tatsächlich zu meinem Hotel ist, denn die Karten im Lonely Planet sind nicht immer genau, aber dieser Preis ist für ca. drei Kilometer entschieden zu viel. Das übliche Spiel, das mich die nächsten Wochen zwangsläufig begleiten wird, beginnt. Er läuft mir hinterher und reduziert den Preis auf 300, ich ignoriere ihn und der nächste hängt sich an mich und will die Tour für 200 machen. Ich laufe einfach weiter und draußen hält mich ein dritter an, der die ersehnten Worte spricht:

‚Pre-Paid Taxi, Sir!‘
‚How much?‘
‚Which Hotel, Sir?‘
‚Puja Guest House.‘
’75, Sir‘
‚Theek hai. Acha‘

Na also, geht doch! Mein Fahrer bringt mich so weit wie es geht, den Rest führt er mich durch ein Gewirr von engen Gassen, die man hier Galis nennt, bis zu meinem Hotel. Wir sind so oft links und rechts abgebogen, dass ich meine Orientierung verloren habe, zumal mir alle Galis zunächst sehr ähnlich erscheinen.
Man zeigt mir ein geräumiges Zimmer mit viel Platz und einem sehr sauberen Bad im zweiten Stock für 500 INR, die billigeren sind mit Gemeinschaftsbad, aber ein Blick genügt mir für die Entscheidung fast das doppelte zu bezahlen. Gepäck verstauen, Bett mit meinem Sonne-Mond-Bedcover verschönern (sehr wichtig), Safe befestigen, Moskitonetz aufhängen (sofern nötig), duschen, rasieren, neue Kleider auswählen, danach einen heißen Ginger-Lemon-Honey, etwas Feines zu essen und zum Abschluss einen Chai (falls vorhanden ist ein Coconut Pancake, am liebsten mit Chocolate, obligatorisch) – so in etwa verläuft ab jetzt mein Ankunftsritual in jeder neuen Unterkunft.

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Ich genieße auf dem höchsten Dachrestaurant der Stadt den Ausblick auf den zurzeit wenig Wasser führenden Ganges. Der Himmel ist trüb und Wolken ziehen auf, dann unternehme ich meinen ersten Rundgang durch die Gassen und natürlich verirre ich mich – trotz meines guten Orientierungssinnes. Links und rechts der Galis sind Geschäfte, Lokale, Hotels, Garküchen, Lassi-Shops und Tempel.

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Schwierig wird es, wenn Leute stehen bleiben, um sich etwas anzuschauen, von der einen Seite laut hupend Motorräder heranbrausen und von der anderen Seite eine stattliche Kuh unbeirrt ihren Weg zieht. Man macht sich so klein wie möglich oder schlüpft in einen Shop. Ganz besonders interessant ist das Ganze, wenn ein Trauerzug durch die Gassen in Richtung Verbrennungsstätte zieht, hier gibt man am besten den laut ‚Ram Ram‘ rufenden Gruppen den Vortritt.

Es gibt Ghats, an denen die Verstorbenen rund um die Uhr verbrannt werden und so ist es unausweichlich, dass man ständig diese Trauerzüge, die oft halb rennend die Toten durch die Galis tragen, zu Gesicht bekommt während man vielleicht gerade mit einem Verkäufer feilscht, an einem Stand einen Chai trinkt oder gar einen Imbiss verzehrt. Ich erlebe nicht wenige Touristen, die bei diesem Anblick erschrocken reagieren.
Im Blue-Lassi-Shop (lecker, lecker) sitzt eine größere Gruppe weiblicher Touristen mit einem indischen Guide. Manche halten sich die Hand vor den Mund, anderen entschlüpft ein ‚Oh my God!‘ und eine Frau fragt leicht erregt ihren Führer „That’s a body (=Leiche), isn’t it?“

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Mich berührt die Sache auch irgendwie, wobei es mir nichts ausmacht, wenn Leichen an mir vorüber getragen werden. Jedoch dauert es einige Tage, bis ich eine Verbrennungsstätte aufsuche, und das auch mit einem gehörigen Abstand.

Verbrennung1

Um die Zeremonie an einem Verbrennungsghat zu beobachten braucht man Geduld und gute Nerven wegen den vielen Schleppern und Guides, die einem die beste Aussicht zeigen oder die Rituale erklären möchten. Geht man auf sie ein, verlangen sie sofort Rupees und reagieren recht sauer, wenn man kein Geld gibt (auch wenn man noch gar keine Leistung in Anspruch genommen hat). Also stelle ich meine Ohren auf Durchzug und ziehe wortlos weiter, sobald mich jemand anspricht und das ist mir eigentlich unangenehm, da ich gerade mit Fremden gerne kommuniziere. Manchmal mache ich mir einen Spaß und spreche die Kerle an, bevor sie ihr Sprüchlein zu Ende bringen können:    „I don’t need you. I’m every year in Varanasi and I know all about the Ghats, but I can show you good places for good price! You like?“ Das hilft immer, obwohl ich weiß, dass das auch nicht unbedingt nett ist, schließlich müssen die Typen sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen, aber wenn du das tagelang zigmal hörst, brauchst du manchmal irgendein ein Ventil, wenn du nicht aggressiv werden willst.

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Abends gibt es auf der Dachterrasse meines Hotels Tabla- und Sitarkonzerte, aber nach dem ersten Abend weiß ich, dass ich nicht jedesmal Zuhörer sein werde. Die Jungs bemühen sich, aber offensichtlich sind sie hier, um gemeinsam vor Publikum zu üben. Am nächsten Tag habe ich mein Frühstück in der German Brown Bakery und lese einen Anschlag über die abendlichen Konzerte hier. Okay, Frühstück war hervorragend. Warum also nicht das Abendessen und die Musik testen?

Meine Entscheidung stellt sich als glücklich heraus. Das Essen ist fantastisch, die Musik ist ausgezeichnet und schließlich lerne ich ein paar nette Leute kennen, darunter Marco, ein lustiger Italiener, den ich schon am Nachmittag auf der Flucht (alle meine Strategien haben versagt, ich geb’s ja zu) vor einem nervigen Schlepper kennengelernt habe. Aus einem kleinen Raum ertönen Sitarklänge, die Tür steht offen und ich schaue neugierig um die Ecke. Ein junger Inder, der sich Gollu nennt, winkt mich herein, bietet mir Sitzplatz und Chai an. Ein Sitarlehrer gibt gerade zwei Westlern Unterricht und scheint sich an zusätzlichen Zuhörern nicht zu stören.

Baba Jugalgiri gi - Varanasi

Jugalgiri ji2

Ich verbringe so ziemlich jeden Abend im Brown Bakery um dort die Musik und das Essen zu genießen. Hier liegt man oder schneidersitzt an niedrigen Tischen und nutzt die vielen Kissen und Polster, um es einem so gemütlich wie möglich zu machen. Die Konzerte wechseln wischen Sitar/Tabla und Sitar/Flute, wobei der Tablaspieler immer derselbe ist. Mit der Zeit wird der Tisch seitlich neben dem Tablaspieler mein Stammplatz und ich freunde mich mit Rishdu an.

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Flute

Nach dem Konzert quatschen wir miteinander und hören gemeinsam Musik von unseren Phones. Wir spielen uns gegenseitig Lieblingsstücke vor, wobei jeder einen Stöpsel des Kopfhörers im Ohr hat. Ich spiele ihm die Musik von Sidd und Ryan vor und lasse auch ein paar Stücke von BABBELS laufen, einer schwäbischen Weltmusik-Produktion von und mit Gündalji Schnupfenspray (der Insider ist für jemand ganz Bestimmten gedacht).
Das gefällt ihm alles, aber das Highlight kommt, als ich ihn frage, ob er Opern kennt. ‚Opa what?‘ ‚Opera!‘ ‚No, show me!‘ Wir liegen also gesättigt, gekingfishert und ohrengestöpselt Kopf an Kopf auf unseren Kissen und ich wähle für ihn meinen Lieblings-Pavarotti aus: Nessun Dorma! Er macht große Augen und ist beeindruckt! Den Spaß gönnen wir uns ab jetzt jedes Mal so lange, bis das Bakery schließt. Am letzten Abend gibt es demnach einen emotionalen Abschied…

Brown Bakery mit Gollu und Rishdu

Tagsüber hänge ich im Blue Lassi Shop herum, sitze an den Ghats oder streife durch die Galis. In den Gassen ist es manchmal echt anstrengend, ständig werde ich in einen Shop gebeten, bekomme Waren direkt unter die Nase gehalten oder werde in Gespräche verwickelt, die oft nach folgendem Muster ablaufen (Indienreisende kennen das):

‚Which gantrrry?‘
‚Germany‘
‚First time India?‘
‚No, bye‘
‚Stop Sir!‘
‚What d’you want?‘
‚Just talking, improve my English‘

Hin und wieder lasse ich mich darauf ein, ich habe ja Zeit und eventuell ergibt sich etwas interessantes. Aber es endet fast immer damit, dass man mir eine Tour, eine Massage, irgendwelche Waren anbietet oder einen Geheimtipp für einen speziellen, exklusiven Shop eines Freundes anbietet (‚I tell him to make good price, because I like you, my friend‘)!

Es dauert nicht lange, bis mich das anfängt zu nerven, aber dann schwinge ich mich darauf ein. Entweder ignoriere ich die Jungs oder ich biete ihnen während des Gespräches meine Waren an, immerhin habe ich ja Schals aus Little Flower zu verkaufen.
Am einem Nachmittag begegne ich einem smarten, breit grinsenden Inder, der mich schon von weitem anspricht. Ich bin im Moment total gut drauf und spreche ihn auf sein T-Shirt an (I ♡ Paris).

Prakash

Er erzählt mir, dass er in Paris war, um seine Freundin zu besuchen. Dann will er wissen, was ich hier so mache und ich antworte ihm spontan.

„Business.“
„Oh, what kinda?“
„I’m selling scarfs.“

Das interessiert ihn sehr und ich beginne meine Story zu erzählen. Er unterbricht mich und fragt, ob ich Lust auf einen Chai hätte, dann könnten wir uns gemütlich in seinem Shop unterhalten. Okay, warum nicht. In seinem Shop bestellt es erst mal Chai und zeigt mir dann sein dickes Fotoalbum von Paris. Er möchte wissen, welcher Art die Schals aus LF sind und zeigt mir zum Vergleichen einige aus seiner riesigen Auswahl: Wool, Cotton, Fake Silk, Pure Silk, Pashmina.

Danach zeigt er mir, wie man vor allem Kunstseide von echter Seide unterscheidet, wozu man lediglich einen Faden des Stoffes braucht und diesen anzündet. Da Seide ein tierisches Produkt ist, riecht es beim Verbrennen aufgrund des Proteins in etwa so, wie verbrannte Haare riechen. Danach verreibt man die Asche zwischen den Fingern, die sich um so weicher oder gar cremiger anfühlt, je höher der Anteil reiner Seide ist. Außerdem kann man den Stoff spannen und etwas Wasser darauf tropfen lassen, bei reiner Seide perlen die Tropfen und nichts darf durch den Stoff gehen.

Ich bin Prakash dankbar für diese Lehrstunde und verabrede mich mit ihm für morgen, um ihm meine Schals zu zeigen, die im Moment im Hotel liegen.
Am nächsten Nachmittag komme ich mit den Schals und Prakash prüft die Stoffe zunächst mit seinen Fingern. Vermutlich hat er zum ersten Mal ein Produkt aus Rough- Non-Violent-silk in den Händen, weil er erst einmal den Kopf schüttelt und „Really silk?“ vor sich hin murmelt. Bei der Brennerprobe ist er auch irritiert. „Not all are pure silk, some with cotton, some with acetate!“ Jetzt bin ich der Irritierte, habe aber im Moment keine Antwort; ich werde wohl Shiv kontaktieren müssen. Aber Prakash gefallen die Schals und er ist erstaunt über die gute Verarbeitung des Materials; wahrscheinlich hat er von Arbeiterinnen aus einem Lepradorf nicht so gute Arbeit erwartet! Prakash ist jetzt echt interessiert und denkt über eine Bestellung nach. Ich lasse ihm ein Prospekt und alle Kontaktdaten da und dann trinken wir noch einen Chai während er seine Parisbilder aus seinem alten zerschlissenem Album in ein neues überträgt – seine Französin kommt in ein paar Tagen zu Besuch!

Das Kiran Help Center

Am zweiten Tag meines Aufenthaltes mache ich mich auf den Weg, um Sangeeta aufzusuchen. den Kontakt, den mir Shiv gegeben hat. Sie besitzt einen Laden, Kirans Suryoday Shop & Swiss Bakery, in Lanka, einem Stadtteil im südlichen Varanasi. Der Stadtplan, den ich habe, sagt mir dass es etwa fünf Kilometer zu laufen sind, also spare ich mir die Rickshaw und gehe zu Fuß; zunächst durch betriebsame Straßen, dann zieht es mich zu den Ghats.
Heute ist es ausnahmsweise mal kühl, etwa 25° C, bewölkt und ab und zu angenehmer Nieselregen. Die Szenerie wechselt, Menschen die Wäsche waschen, Gläubige bei ihrer Puja, Bootsleute bei Reparaturarbeiten, junge Männer, die vergnügt im Ganges plantschen, Typen, die mir etwas zu rauchen andrehen wollen, bettelnde Kinder, Schlangenbeschwörer mit eingesperrten Kobras (was mir gar nicht gefällt, weil es den Schlangen beim angelbichen Beschwören mit der Flöte gar nicht gut geht…), ab und an ein paar Touristen und natürlich Kühe, Kühe, Kühe, Kühe…

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Immer wieder muss ich die Ghats verlassen, weil der Weg entweder zu verschlammt oder durch kaputte, abgebrochene Stufen unpassierbar ist. Das wird mit der Zeit mühsam, die Treppen sind mitunter sehr steil und ich bekomme so langsam auch Hunger. Am Assi Ghat mache ich mich auf die Suche nach etwas Essbaren und treffe erst mal auf eine riesige Menschenmenge, sehe Absperrbänder und höre Anweisungen auf Englisch über Lautsprecher. Nichts deutet darauf hin, dass es sich um eine Demonstration, politische Veranstaltung oder ähnliches handelt und so besteht kein Grund sich zu entfernen. Ich gebe also meiner Neugier nach (klar, was sonst) und wühle mich durch die Menge. Von weitem entdecke ich große, rechteckige Paneels, die auf einer Seite reflektieren. Aha, wieder einmal werde ich Zeuge von Filmaufnahmen und bahne mir weiter meinen Weg. Zuerst entdecke ich den Kameramann, dann die Schauspieler, denen der Regisseur gerade etwas erklärt. Kurze Zeit später hört man ‚Action‘ über den Lautsprecher und eine einstudierte Prügelei beginnt, die mit ein paar Martial Arts Effekten versehen ist. Nun ja, ist eben für ’nen Film und da funktioniert das wohl so, sage ich mir, schieße ein paar Bilder (man weiß ja nie, evtl. wird der Film ein Renner, dann hab‘ ich was zum Angeben…).

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Nächste Station ist das hochgelobtes Vartika Cafe, wo es sehr gute Pizzen geben soll. Auf der Speisekarte steht eine mit Eggplants und die habe ich zum Fressen gern. Tatsächlich genieße ich hier die beste Pizza, die ich bisher in Indien hatte; der Boden ist schön kross, der Belag mit Mozzarella und das Gemüse ‚bahot acha!‘ Man sitzt dort übrigens gemütlich auf einer Terrasse und kann den betriebsamen Assi Ghat schön überblicken. Ich frage den Kellner nach der Suryoday Bakery, bekomme eine grobe Wegbeschreibung, muss jedoch mehrmals nachfragen, bis ich endlich dort bin.

Die Bakery ist ein sehr kleiner Laden mit einfachen Waren, vergleichbar mit denen aus ‚Eine-Welt-Läden‘. Ich genehmige mir erst mal einen Masala-Tea sowie eine Auswahl der feinen Kekse. Ich bin der einzige Gast und man erklärt mir, dass eigentlich geschlossen ist, aber ich könne ruhig bleiben. Ich frage nach Sangeeta, aber die ist eigentlich nie hier, sondern meistens im Office in Mudhopatty, ungefähr 18 km weiter südlich. Einer der Mitarbeiter gibt mir einen Flyer über Kiran und ich erfahre, dass Sangeeta in Madhopur ein Schulzentrum für körperlich Beeinträchtigte leitet (Shiv, warum hast du mir das nicht erzählt?). Die Jungs im Laden sind total nett und wir unterhalten uns eine Weile.

Suryoday

Ich erkläre ihm die Sache mit den Schals und dass ich unbedingt Sangeeta treffen muss. Als ich frage, wie man am besten zur Schule kommt, meint er nur „No problem“, jeden morgen um 9.00 Uhr fährt ein Schulbus von hier ab und wenn ich will, kann ich da einfach mitfahren. Super, gerne, mache ich! Die Kekse haben es mir angetan, also kaufe ich noch ein paar, ebenso wie ein Schlampermäppchen für meine Bamboo-Stifte. In einer Stunde wird es dunkel und ich sollte mich so langsam auf den Rückweg machen und frage, was eine Rickshaw von hier ab ungefähr kosten darf. Nicht mehr als 60 Rupien. Okay, denke ich, dann wird man von mir wohl 200 Rs verlangen. Ich verabschiede mich, verlasse den Shop und mache mich auf die Suche nach einer Rickshaw, als mich Arjoi, einer der Jungs aus Suryodays, stoppt „Wait please, I can drive you with my bike!“ Whow, cool. Arjoi muss auf dem Weg beim Werkstattleiter etwas abgeben und so lerne ich – natürlich bei einem Chai – einen der Lehrer kennen. Ein netter Plausch, bei dem ich schon einige Informationen über das Zentrum bekomme. Alle würden sich sehr freuen, wenn ich morgen zur Schule mitkomme. Dann wird es für Arjoi Zeit aufzubrechen.

Kurz vor der großen Kreuzung, von der aus die Gasse zu meinem Hotel abgeht, muss er mich absetzen – der Verkehr ist einfach zu dicht dort und zu Fuß bin ich auf jeden Fall schneller. Wir verabschieden uns und Arjoi freut sich, mich morgen wieder zu sehen!

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Im Puja Guest House genehmige ich mir erst mal einen Hot Ginger Lemon Tea auf der Dachterrasse und genieße die Szenerie; dunkle Wolken ziehen auf, ein zunehmend stärker werdender Wind weht von Süden her und plötzlich kracht es zum ersten Mal. Das Gewitter ist enorm heftig, Blitze zucken überall am Himmel gleichzeitig. Auf einmal gleißendes Licht und gleich darauf ohrenbetäubender Lärm. Direkt nebenan schlägt ein Blitz in eine Leitung, es wird ringsherum dunkel und wir müssen die Terrasse verlassen, weil der Wind den Regen weit unter die überdachten Plätze peitscht, so dass innerhalb weniger Minuten alles unter Wasser steht. Eine Stunde später ist der Spuk vorbei und die Elektrizität wieder zurück.

Am nächsten Morgen packe ich die Schals ein und mache mich auf den Weg zu Suroday. Ich finde einen Fahrer, der mich für 180 Rupees zum Shop fahren will. Etwas zu viel, aber egal, weder will ich lange handeln, noch lange suchen.  Es ist zwar früh am Morgen und noch nicht viel los, trotzdem nimmt mein Fahrer eine Abkürzung und fährt recht geschickt und flott durch die engen Straßen, weicht Hindernissen aus, umkurvt Kühe und überholt so jedes Fahrzeug, das ihm vor die Räder kommt – Schuhmacher und Vettel hätten ihre wahre Freude mit ihm – nur damit ich meinen Schulbus rechtzeitig bekomme! Kurz vor unserem Ziel, während wir eine Brücke hochfahren, versagt der Motor. Den Rest laufe ich zu Fuß, mein Fahrer läuft mit, da er von irgendwo anrufen muss, sein Mobile ist nicht geladen. Wechselgeld hat er auch nicht, weshalb er sich mit 150 Rupees begnügen muss, mehr habe ich nicht in kleinen Scheinen.

Die Jungs im Suryodays freuen sich total, als sie mich sehen; da ich zu früh bin, habe ich noch Zeit für ein kurzes Frühstück, Masala Omelett und Kardamom Tea. Dann geht es ab zum Kiran Center for Education & Rehabilitation of Children with Different Abilities, so die Aufschrift des knallgelben Schulbusses.

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Der 9-Uhr-Bus ist kaum besetzt, eine Mutter mit ihrem Sohn, ein paar Arbeiter von Kiran und ich sind die einzigen Fahrgäste, außerdem werden ein paar Pakete für das Center eingeladen. Die Schüler, die in verschiedenen Internaten in Varanasi untergebracht sind, werden üblicherweise mit dem 8-Uhr-Bus nach Madhopur gebracht.

Irgendwie finde ich das schon witzig, als Lehrer aus dem Westen in Indien in einem Schulbus zu sitzen (eigentlich fehlt nur noch ein Esels-, Pferde- oder Ochsenkarren, dann habe ich so ziemlich alle Transportarten in diesem Land ausprobiert – falls noch eines fehlt, lasst es mich wissen…).

Kiran Bus

Nach einigen Kilometern verlassen wir die Stadtgrenze von Varanasi und so langsam wird es rechts und links der Straße immer grüner. Nach etwa 20 Minuten verlassen wir die „Schnellstraße“ und biegen in eine Nebenstraße ein, die bei uns ein besserer Feldweg wäre, aber immerhin befestigt und in einem sehr guten Zustand. Der Bus passiert einzeln stehende Behausungen, kleine Gehöfte und vereinzelt stehen hier ganz schmucke, farbenfrohe Villen mitten im Grünen. Die Wege hier sind relativ sauber und ich kann hier kaum Plastikabfall entdecken.

Schließlich kommen wir im Kiran Center, das von einer schönen Steinmauer umgeben ist, an und passieren ein Metalltor. Mir bleibt der Mund offen stehen, als ich diese Explosion von Grün und Bunt erblicke. Überall zwischen und um die nett anzusehenden Gebäuden gibt es die verschiedensten Bäume, Büsche und Blumen. Die Wege sind hübsch angelegt und die Fassaden der Häuser bildet einen angenehmen Kontrast zur Bepflanzung. Sofort fühle ich mich wohl und denke, dass dies hier für die Schüler eine Art Paradies sein muss.

Kieran Reception

Ich begegne auf meinem Weg zum Empfangsgebäude nur fröhlich dreinblickenden und lächelnden Menschen (nein, man hat ihnen nichts in den Tee geschüttet, ich habe auch davon getrunken). Die Dame am Empfang lässt mich zu Sangeetas Sekretärin (die mich von ihrer liebenswerten Art her an unsere Sekretärin, Frau J., erinnert)  bringen und wir verstehen uns gleich prächtig. Sie organisiert für mich ein Mädchen, das mich durch die gesamte Anlage führen wird, da Sangeeta im Moment beschäftigt ist. Dann rollt Rumita hinter ihrem Schreibtisch hervor, um mich Arunita vorzustellen, die soeben „gebracht“ wurde. Arunita sitzt ebenfalls im Rollstuhl und wird die nächsten zwei Stunden meine Führerin sein, d.h. sie erklärt mir alles bzw. stellt mich Leuten vor, während ich die Schweißarbeit verrichte. Mit Arunita habe ich saumäßig viel Spaß, sie lernt nämlich gerade die deutsche Sprache und wenn sie mit der Hand nach links zeigt und „rechts“ sagt, gehen wir auch rechts (klingt jetzt vielleicht nicht unbedingt lustig, wenn man es liest, aber zwischendurch muss ich vor lauter Lachen das Schieben einstellen, während Arunita kichert, wie es nur indische Mädchen können).

Ich lerne alle Abteilungen kennen

• die Werkstatt, in der Gehilfen aus Kunststoff, Fuß-, Bein- und Armschienen hergestellt werden. Alle Arbeitsprozesse finden hier statt – Vermessen, Formen der Roh-Schienen, Bohren der Belüftungsöffnungen, Befestigen der Halteriemen, Entgraten und Schleifen, Anpassen am Klienten
• die Holzwerkstatt, in der hauptsächlich Spielwaren für den Verkauf hergestellt werden
• die Farm mit einer Hand voll Milchkühen
• das Therapiezentrum, in dem Sprachschulung, Bewegungsschulung und Förderung der Grob- und Feinmotorik stattfinden
• den Kindergarten
• die Bibliothek
• die Beratungsstelle
• die Handarbeitswerkstatt, in der Stickereien, Näharbeiten, Bastelarbeiten u. ä. hergestellt, sowie Seidentücher oder Seidenschals gefärbt werden
• die verschiedenen Schulabteilungen und -stufen mit den jeweiligen Klassenzimmern
• schließlich die Küche mit Speisesaal

Kieran Playground

Kieran Workshop

Kieran Women with Linde

Kieran Facilities

Kieran Artscraft

Während des Rundgangs werde ich überall freundlich empfangen und bekomme alles was ich wissen will, geduldig erklärt.
Dann bringt mich Arunita zurück zum Sekretariat, wo mich Rumita freudestrahlend empfängt „Now Sangeeta has time for you“.
Sangeeta ist eine zierliche, ältere Schweizerin mit einem reservierten Lächeln und hellen, wachsamen Augen. Wir unterhalten uns eingehend über das Zentrum (weitere Infos auf www.Kiranvillage.org) und ich bin erstaunt, was diese resolute Frau hier in Varanasi aus dem Nichts aufgebaut hat. Wegen der Schals aus Little Flower besteht grundsätzlich Interesse, verweist mich aber bezüglich der Einzelheiten auf den Leiter der Werkstatt, den ich ja schon kenne. Sie lädt mich für später zum gemeinsamen Mittagessen ein, an dem eine Delegation aus der Schweiz teilnehmen wird.
Im Handicraft Shop lerne ich Linde kennen, eine Waldorf-Lehrerin aus Freiburg, die sich gerade eine Auszeit nimmt und kurz vor ihrem Ruhestand steht. Sie ist im Moment mit einer schwierigen Bastelarbeiten beschäftigt, die von einem Laden in Freiburg für das Weihnachtsgeschäft geordert wurden. Wir plaudern eine Weile, tauschen Informationen über Kiran und Little Flower aus, während ich mein Basteltalent zur Verfügung stelle und bei den Sternenengeln helfe. Der Werkstattleiter ist heute leider nicht da, was bedeutet, dass ich noch einmal kommen darf! Aber gerne doch! Gemeinsam mit den Schweizern gehen wir zum Essen und sehen, dass für uns alle an einem großen runden Tisch bereits gedeckt ist. In der Mitte ist eine drehbare Platte, auf der einfache, aber lecker zubereitete Speisen darauf warten von uns verspeist zu werden: geröstete Kartoffeln, Reis mit Cashewnuts, Dal-Curry, gedünstetes Gemüse, Mixed Pickels, Kürbisssuppe und extra Chillies. Wasser gibt es hier vom eigenen Brunnen und kann von allen gefahrlos getrunken werden; es wird regelmäßig getestet und ist das Beste, was man in Varanasi bekommen kann.

Nach dem Mittagessen lädt uns Sangeeta zum Kaffee in ihrem Garten ein. Sie hat ein kleines Grundstück mit einem herrlichen Garten in der Nähe des Schulzentrums, auf dem sie sich ein kleines, rundes Häuschen aus Stampflehm und Bambus hat bauen lassen (aha!). Innen ist es geschmackvoll und heimelig eingerichtet. Hier könnte ich es auch eine Weile aushalten. Kein Problem, Sangeeta geht für ein paar Wochen auf Reisen und so lange kann in ihrem Haus wohnen wer möchte, es steht für jeden offen! Linde hat sich bereits angemeldet, um mit ihren Mann hier eine Weile Urlaub zu machen und ich werde schon etwas neidisch, denn dieses idyllische Plätzchen am Ganges eignet sich hervorragend, um die Seele baumeln zu lassen.

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Sangeetas House

Sangeeta Garden

Ich schaue mir nochmal den Shop an, nachdem das Kaffeekränzchen beendet ist und verabrede mich für übermorgen, denn morgen ist die Schule geschlossen, Durga Puja! Um 16.00 Uhr geht es mit dem Schulbus zurück und diesmal ist er voll besetzt. Immer wieder hält der Fahrer an, um Kinder aussteigen zu lassen, deren Eltern am Straßenrand warten und ihre Sprösslinge herzlich und freudestrahlend in Empfang nehmen. Oft stehen auch die Väter dabei und ich habe den Eindruck, dass die Behinderung für die Eltern kein Problem zu sein scheint. Einmal erlebe ich, wie ein Vater seine kleine Tochter, die nicht alleine laufen kann, sofort in die Arme nimmt, um sie dann lachend herum zu wirbeln. Die Einstellung, die hinter diesem Verhalten steht, ist sicher auch ein Ergebnis der intensiven Elternarbeit, die Sangeeta und ihr Team hier leisten. Der gelbe Schulbus leert sich so langsam und ich fühle mich nach dem langen Tag reich beschenkt.

Mein zweiter Besuch im Kiran Center hat eine stressige Vorgeschichte. Wie vor zwei Tagen finde ich mich wieder um 9.00 Uhr im Suryoday Shop ein, um den Bus zu nehmen und erfahre zu meinem Leidwesen, dass samstags nur um 8.00 Uhr nach Madhopur gefahren wird. Die Mitarbeiterin, die heute anwesend ist, empfiehlt mir eine Rickshaw zu nehmen, der Preis wäre ungefähr 200 Rupees, auf keinen Fall mehr. Um die Ecke ist ein Stand, ich finde einen Fahrer, zeige ihm den Flyer mit der Adresse; er nickt kopfwackelnd und der Preis geht auch in Ordnung. Zunächst aber schlägt er die falsche Richtung ein, ich protestiere, aber er fährt unbekümmert weiter „Gasoline!“ Okay, Tuk – Tuk hat Hunger, gut – ich bin beruhigt. Vollgetankt geht’s dann weiter, immer noch in die entgegengesetzte Richtung – „Shortcut!“ Ah so, aha, klar, er wird’s schon wissen – beruhige ich mich zum zweiten Mal. Zehn Gassen weiter und zehn Minuten später fahren wir immer noch zickzack, er hält an und befragt einen Passanten. Ich frage ihn, was los ist und der Fußgänger klärt mich auf, dass mein Rickshaw-Wala keine Ahnung hat, wo Kiran liegt und auch nur ein paar Brocken Englisch spricht – Sche…! Der nette Herr hat vom Kiran Center auch noch nichts gehört und jetzt bin ich etwas ratlos. Wir fahren weiter bis zur nächsten Straßenecke, wo sich ein Friseursalon befindet und man mir erklärt, dass wir immer noch in Lanka sind!!! Dort fragt mein Blender nach der Schule und nun beginnt eine Show, über welche ich erst im Nachhinein schmunzeln kann. Zunächst wird etwas diskutiert, wobei ich kein Wort verstehe, jedoch wiederholen sich die gleichen Wörter immer wieder. Nach und nach kommen neue Helfer und Neugierige dazu und das ganze Problem wird natürlich jedes Mal neu erklärt. Im Kiran anrufen wäre eine Idee, aber mein Akku ist leer und mein Gutester hat kein Guthaben auf seinem Mobile. Ein älterer Mann stellt seines zur Verfügung, ein zweiter tätigt den Anruf, weil mein Bester sich weigert. Das Gespräch bringt uns nicht weiter, weil es offensichtlich Kommunikationsschwierigkeiten gibt. Mein Herzchen gestikuliert heftig und ich verstehe nur „Not drive“, „Pay“ und „New Rickshaw“ Ne ne, Schätzchen, du fährst mich hin, du hast mich ja auch hierher gebracht. Und auf keinen Fall zahle ich doppelt! Jetzt schreit mein Vögelchen und die ersten Schaulustigen werden aggressive, manche schimpfen mit meinem Darling, ein paar fuchteln in meine Richtung. Jetzt wird’s mir zu bunt, strecke meinen Kopf aus der Rickshaw und rufe laut „Someone around here who speaks proper Englisch, please?“ Das hilft anscheinend, denn nun taucht ein gut aussehender, gut gekleideter junge Inder auf, mein Hero, und fragt im besten Englisch, wie er helfen kann. Er schnappt sich den Flyer, ruft im Kiran Center an und erklärt dem Fahrer die Strecke. Das scheint meinem Allerliebsten gar nicht zu gefallen. Ich will wissen, was nun los ist und mein Held erklärt mir, dass dafür der doppelte Fahrpreis fällig ist. Damit bin ich natürlich nicht einverstanden und nach einigem Hin und Her einigen wir uns auf 300 Rupees. Gerade noch rechtzeitig bevor es weitergeht, schnappe ich meine Kamera und schieße ein Foto von meinen Rettern, während mein Augapfel Gas gibt und auf Strecke geht. Uff! Ich schüttle den Kopf über das gerade Erlebte und mein Ärger ist so gut wie verflogen, es huscht sogar ein leichtes Lächeln auf mein Gesicht.

Eine halbe Stunde später sind wir endlich da, es ist fast Mittag. Der Leiter der Werkstatt ist noch nicht da, aber ich treffe Linde und wir gehen erst mal Essen. Nach der Mittagspause kann ich endlich meine Schals zeigen. Die Werkstatt hier im Kiran Center hat sich auf das Färben von eigenen Mustern spezialisiert, weshalb Bedarf an ungefärbten Schals besteht, aber das dürfte für Shiv kein Problem sein. Die Qualität der Ware findet auch Zustimmung und nach dem Austausch von Höflichkeiten erfolgt der Austausch der Adressen. Jetzt möchte Linde und eine der Schweizerinnen die Schals auch nochmal sehen, fünf Minuten später habe ich meine ersten beiden Schals in Indien verkauft! Wieder helfe ich bei den Weihnachtsbasteleien und entspanne mich beim Werkeln. Und schon muss ich wieder los, die Busse starten samstags eine Stunde früher zurück nach Varanasi. Ich verabschiede mich von diesem wunderschönen Ort, steige als letzter in den Bus und darf direkt hinter dem Fahrer Platz nehmen. Ab ins Guest House, mein Körper schreit nach einer heißen Dusche!

Abschied und Überraschung

Mein Gepäck ist längst gepackt und an der Rezeption aufbewahrt. Bis mein Zug fährt habe ich noch gute drei Stunden Zeit und gehe nochmals zu meinem Lieblings-Lassi-Shop, um mir wieder einen Coconut Lassi zu genehmigen, die schwierige Frage ist nur: mit oder ohne Schoko? Bei meinem ersten Lassi dort schwärme ich lautstark, weil das Zeug echt super gut ist. ‚Mmh., I love Coconut!‘ Daraufhin fordert mich der Besitzer auf, eine ordentliche Menge aus meiner randvollen Schale zu trinken, damit er nachfüllen kann! Bei meinen weiteren Besuchen das gleiche Spiel, jedes Mal sitze ich in seiner Nähe, sobald ich meinen Lassi habe, dreht er sich um und grinst breit. ‚Go, trink!‘ und dann wird wieder ordentlich nachgefüllt…
Am Rande bekomme ich ein Gespräch von einem der Jungs, die hier helfen mit einem englischen Pärchen mit. Es geht um den Golden Temple, wie schön und interessant er sei. Man kommt jedoch als Nicht-Hindu nicht hinein, höchstens auf den äußeren Hof, wenn die Polizisten am Gate entsprechend gelaunt sind. Oft werden Touristen schon dort abgewickelt. ‚Not possible!‘ Ich mische mich in die Unterhaltung mit ein und erfahre, dass es durchaus möglich wäre, als Nicht-Hindu in den inneren Bezirk und ins Allerheiligste zu gelangen. Der junge Inder erklärt uns die Prozedur und als er hört, dass ich heute abreise und mir noch zwei Stunden bleiben, empfiehlt er mir, es zu versuchen. Okay, why not, denke ich mir und mache mich auf den Weg.
Vor dem Zugang zum Tempelareal, der einer Sicherheitsschleuse im Flughafen gleicht, geht es hoch her. Die Gasse ist eh sehr schmal und zur Zeit drängen sehr viele Pilger in den Golden Temple, es hat sich eine lange Schlange gebildet und ich überlege, ob es überhaupt Sinn macht, die Geschichte anzugehen. Ich gebe mir einen Ruck und spreche den Polizisten mit den meisten Knöpfen auf den Schultern an. Es mustert mich kurz und dann murmelt er etwas das wie ‚close bag‘ klingt. Ein Mann aus dem Shop direkt neben dem Zugang winkt mich zu sich. Ich soll meine Sachen bei ihm lassen und nicht im Safe beim Blumenhändler, das kostet unnötig Geld und außerdem will er mir noch ein paar Tips geben. Im hinteren Teil des Ladens fragt er erst einmal, wo ich herkomme und ob es mir ernst mit dem Tempel ist. Er wickelt meine Tasche in ein paar Stoffe ein, Geldbeutel und Reisepass soll ich mitnehmen, beides werde ich brauchen. Falls man mich nicht hineinlässt, soll ich einfach stur bleiben (ich glaub das kann ich ganz gut). Auf keinen Fall soll ich auf das Angebot eingehen, die Spitze des vergoldeten Tempels von einer Terrasse aus zu beobachten, die man über eine Treppe gegenüber des Haupteinganges erreicht. War man erst einmal dort oben, lassen die Beamten einen auf keinen Fall mehr zum Tempel, denn man hat ihn ja schon gesehen und das genügt ja wohl für einen Gora. Respektvollerweise sollte ich, wie jeder Hindu einen kleinen Bund Blumen kaufen, um diese dann im Heiligtum zu opfern.
Gut, ich bin nun durch die vielen Informationen gut gerüstet und mache mich auf den Weg. An der Sicherheitsschleuse muss ich meinen Reisepass zeigen und werde von zwei Beamten gründlich abgetastet. Mit kritischem Blick werde ich eingelassenen und stehe nun im Außenbezirk. Rechts von mir ist eine hohe Mauer, an der sich schon eine ordentliche Schlange Gläubiger gebildet hat, links reiht sich ein Geschäft an das andere. Ich gehe zu dem Stand mit den Blumen, der sich gegenüber des Haupttores befindet und möchte die Blumen kaufen.

‚Not possible, only Hindus.‘
‚I know, but I want to learn about Hinduism.‘
‚Not possible, only Hindus.‘

Ich schaue mich nach dem ranghöchsten Officer um, aber der ist gerade beschäftigt. Ein sehr junges Soldat nähert sich und beginnt mit mir eine nette Unterhaltung und ich frage ihn, wie man in den Tempel kommt.

‚Not possible, only Hindus.‘

Dann sehe ich, dass der Chef gerade niemand um sich hat.

‚Sir, I want to go in the temple.‘
‚Not possible, only Hindus.‘
‚I know Sir, but I want to learn about Hinduism.‘
‚Not possible, only Hindus.‘
‚I know Sir, but I want to learn about Hinduism.‘

Er schickt mich zu einem Tisch, an dem sich alle registrieren müssen. Ein älterer Herr sitzt dort und verlangt meinen Pass.

‚Which country?‘
‚Germany, Sir‘
‚Not possible, only Hindus.‘
‚I know Sir, but I want to learn about Hinduism.‘

Das wiederholt sich mehrmals, dann gehe ich nochmal zu dem Officer mit dem vielen Lametta.

‚Sir, what’s wrong? I want to go inside!‘

Keine Antwort. Ich gehe wieder zurück zum Tisch und wiederhole brav mein Sprüchlein.

‚Not possible, only Hindus.‘

Schließlich kommt der Chef mit an den Tisch und verfolgt stumm unseren Dialog. Nach der x-ten Wiederholung schaut er zu mir hoch, streckt seine Hand aus und bellt ‚Passport!‘, gibt ihm dem anderen Beamten, der mich endlich in die Liste einträgt. Meinen Ausweis muss ich zurücklassen und noch auf der Liste mit vollem Namen unterschreiben. Während der ältere Beamte langsam einträgt und dabei tausendmal in meinem Pass hin- und herblättert, kommt ein Priester mit Wasser und Farbtöpfchen. Ich beobachte genau, was die beiden Beamten machen, bevor er ich am der Reihe bin. Er gießt zuerst Wasser in rechte Hand, davon nimmt man einen Schluck und verteilt den Rest von der Stirn aus über den Kopf bis zum Nacken. Jetzt bekommt man die Tikka auf die Stirn. Wortlos zeigt der Boss in Richtung Eingang. Der Blumenverkäufer gibt mir ein kleines Bündel Blumen sowie einen Plastikbecher mit milchigem Wasser für 50 Rupien und meint dann ‚To much people inside. You must wait one hour. Stand in line.‘

Als ich die Länge der Warteschlange sehe, ist mir klar, dass das zeitlich zu knapp wird. Übrigens beäugen mich die Leute mit kritischem oder gar unfreundlichem Blick. Der junge Soldat von vorhin nimmt mich zur Seite und führt mich direkt vor den Eingang. ‚Wait a minute!‘ Nach einigen Minuten schubst es mich mit dem nächsten Schwung der eingelassen wird in Richtung Eingang, wo mich ein anderer Soldat am Arm packt und zwischen die Warteten in den inneren Tempelbereich schiebt. Jetzt geht es im Entenmarsch durch das Tempelgelände und ich sehe nun fast nur freundliche Gesichter. Der Mann hinter mir legt seine Hand auf meine Schulter ‚Don’t worry, I take care. I show you‘, schiebt mich dabei immer stückweise vorwärts und ist so dicht hinter mir, dass sich niemand dazwischen mischen kann. Wir kommen dem Allerheiligsten immer näher, ich bei gespannt und aufgeregt zugleich. Noch ein paar Meter, vor mir läuten die Menschen die Glocke neben einem versilberten Tor, es wird dunkel und jetzt geht alles sehr schnell. Im Inneren befindet sich eine quadratische Vertiefung in dessen Mitte ein schwarzer Lingam aufragt, zwei Polizisten regeln den Ablauf; sobald man die Blumen in die Vertiefung geworfen und die Milch über den Lingam geschüttet hat, wird man auch schon wieder hinaus befördert. Außerdem wachen sie mit Adleraugen darauf, dass nichts unerlaubtes mit dem Lingam in Kontakt kommt. Wie ich später von dem netten Shopinhaber erfahre, hat es ein Tourist geschafft eine Flasche mit normalen Wasser in den Tempel zu schmuggeln, um dieses dann über den Lingam zu schütten. Ein schwerer Frevel, die Aufregung und Entrüstung unter der Hindu-Gemeinde war groß und es gab Überlegungen für Nicht-Hindus generell keine Ausnahmen mehr zu machen – verständlich.
Draußen setzt ich mich auf eine Steinbank und betrachte das vollständig mit Gold überzogenen Dach und bin irgendwie überwältigt und ergriffen.
Langsam wird es für mich Zeit den Ort zu verlassen verlassen und ich gehe durch einen Seitenausgang, um meinen Ausweis und meine Flip-Flops abzuholen. Zurück im Shop freut sich der Besitzer mit mir und bittet mich meine Tasche zu durchsuchen, um zu prüfen, dass alles da ist. Ich schaue mich kurz um und sehe, dass er ausgezeichnete Ware hat. Wir haben noch ein kurzes Gespräch und ich erfahren, dass er benachteiligten Kindern ermöglicht, eine Schule zu besuchen, indem er einen Teil seiner Profites dafür verwendet. Ich erzähle ihm kurz von Little Flower, zeige ihm meinen blauen Schal und lasse ein Prospekt da. Er ist offensichtlich interessiert und denkt, dass die Schals sich gut in seinem Shop verkaufen lassen. Wir verabschieden uns herzlich voneinander und ich die zum Hotel, um mein Gepäck zu holen.

Mein Unterkunft liegt am Ende einer immer schmaler werdenden Seitengasse direkt am Lalita Ghat. Meistens komme ich spät im Stockdunkeln heim und laufe immer an einem älteren Herrn vorbei, der vor seinem Haus sitzt, das das Letzte vor dem Puja Guest House ist. Er grüßt jedesmal freundlich, anfangs nur mit ‚Namaste‘, dann kommt mit jedem Abend mehr dazu; ‚Good night!‘ ‚Oh hello!‘ ‚Ah, Puja Guest House?‘. Eines Abends bleibe ich stehen und unterhalte mich länger mit ihm. Es spricht erstaunlich gut Englisch und hat Spaß am der Unterhaltung, immer wieder fällt er mit seinem heißeren trockenen Lachen ein, das mich an irgend jemand erinnert. Am Tag der Abreise sehe ich ihn das erste Mal bei Tageslicht, als er gerade mit einem kleinen Kind spielt. Ich komme näher, er sieht mich und freut sich offensichtlich. Als ich vor ihm stehe glaube ich einen Bruder von Paul Newman vor mir zu haben. Natürlich muss ich jetzt ein Foto schießen, er kommentiert das ganz lässig ‚Yes, I know. I’m very famous, my fotos are all over the world. Many Tourists making pictures‘. Zum Abschluss will er unbedingt noch ein Foto mit seinem Enkel auf dem Motorrad. Ein sehr schöner Abschied von Varanasi!

Indian Paul Newman

Indian Paul Newman2